Wir leben mit zwei Pflegekindern in einem grossen alten Haus mit viel Garten. In den vergangenen Jahren haben wir sehr viel über Kinder gelernt, welche einen schwierigeren Start ins Leben hatten. Viele Dinge im Alltag unterscheiden sich wohl kaum vom Leben mit leiblichen Kindern. Frau/Mann bekommt sie, wir lernen sie kennen, mit ihren Spezialitäten und Eigenheiten. Und doch gibt es zahlreiche Unterschiede zu Kindern, welche behutsam von klein auf in einer stabilen Familie mit Vater und Mutter aufwachsen. Dazu einige Beispiele aus unserer Erfahrung.
Veränderungen
Am markantesten ist eine große Unsicherheit in Bezug auf Veränderungen. Strukturänderungen im Alltag lösen viele Ängste aus. So ist es z.B. schwierig, einmal etwas später ins Bett zu gehen, oder damit fertig zu werden, dass die Schulreise vielleicht am Dienstag, vielleicht aber auch erst am Donnerstag stattfindet.
Spagat zwischen verschiedenen Familienkulturen
„Unsere Kinder“ sind sich gewöhnt, mit zwei Müttern und manchmal zwei bis drei Vätern gross zu werden. Zur leiblichen Familie kommt die soziale Familie, in der sie ab der Platzierung den Lebensmittelpunkt haben. Die Kinder müssen lernen, mit den großen Unterschieden beider Familien zu leben. Dieser Kulturwechsel bringt viele Spannungen und Verwirrung in die Welt der Kinder.
Herkunftsfamilie
Wir haben unterschiedliche Beziehungen zu den Herkunftsfamilien unserer Kinder. Klar ist, dass sie die leiblichen Eltern sind und bleiben. Das ist uns auch im Gespräch mit den Kindern wichtig. Wir respektieren die Herkunftsfamilie und haben auch Respekt vor ihren Lebensumständen. Im Alltag mit den Kindern versuchen wir, den Kontakt zur Familie, so gut es geht zu erhalten. Unglaublich wichtig sind dabei klare Regeln und Abmachungen. Vor allem das Kind soll sich orientieren können. Es kann immer wieder zu Konflikten kommen, was sich auf das Verhalten der Kinder auswirkt. Wenn wir den Kindern jedoch erklären, weshalb die Mamis und Papis so reagieren, finden wir Wege, die Kinder aus dem Loyalitätskonflikt zu befreien. Die Kinder lieben beide Familien, die soziale und die leibliche. Nie werten wir die Eltern der Kinder ab, weil wir so die Kinder selber auch abwerten, da sie das Kind ihrer Eltern sind. Nicht abwerten heisst aber trotzdem hinzuschauen und dazu zu stehen, dass es dem Kind zum Beispiel an einem Besuch nicht gut gegangen ist und das Kind auch darin stärken, dass die Zeit der Ohnmacht und Angst vorbei ist.
Trauer und Aggression
Wir erleben viele traurige Momente mit den Kindern. Eine tiefe Sehnsucht nach echten, guten, leiblichen Eltern ist immer wieder spürbar. Wir können die Trauer mit den Kindern teilen, wir können sie aber nicht wegnehmen. Oft wird sie aber durch das Teilen leichter. Die Trauer kann sich auch in Wut umwandeln, Wut gegen uns, die Herkunftsfamilie, gegen Gott und die Welt. Auch darin erscheint es uns immer wieder wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen und mit den Kindern herauszufinden, worauf sie wütend sind, sie in der Wut zu verstehen und ihnen altersgerecht zu erklären, weshalb es so gekommen ist, wie es ist. Die Kinder haben auch mehr Mühe, Harmonie auszuhalten, schöne Momente zu geniessen.
Fortschritte und Rückschläge
Wir stellen fest, dass die Fortschritte bei Kindern, welche nicht von Anfang an in einer stabilen Familie gelebt haben, kleiner sind und häufig Rückschritte auftreten. So fehlen viele Grunderfahrungen, welche zum Teil schon in früher Kindheit gemacht werden.
Behörden
Ein weiterer grosser Unterschied ist die Zusammenarbeit mit Behörden und Herkunftsfamilien. Regelmässige Standortbestimmungen erfordern Zeit und Kraft. Nicht selten kommt es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen der behördlichen Person, welche nebst den Interessen des Kindes oft auch die Interessen der Eltern vertritt und uns Pflegeeltern, die wir die Sicht aus einem 24-Stunden-Beziehungsalltag mit dem Kind vertreten. Hier geht es darum, klar für unsere Meinung einzustehen aber auch darum, gemeinsam Lösungen zu finden. In unserer fünfjährigen Erfahrung als Pflegeeltern haben wir mit verschiedenen Amtsvormunden, Anwälten und sogar einmal mit einem Richter der Vormundschaftsbehörde zu tun gehabt.
Was wir als wichtig erachten
Wichtig erscheint uns im Alltag eine Partnerschaft, in der die Möglichkeit besteht, vieles gemeinsam zu besprechen. Oft ist viel Kreativität für ungewohnte Lösungen von ungewohnten Problemen gefordert. Immer wieder einmal muss ein eingeschlagener Weg verlassen, ein neuer gesucht oder ein Stück zurück gegangen werden, damit wir das Kind wiederfinden, oder damit es uns wiederfindet. Wir verbringen viel Zeit draussen. Gemeinsam in der Natur geht es uns allen am besten. Bewegung, Zeit für Gespräche, wenig kommerzielle Ablenkung tun uns gut.
Unterstützung
Eine Therapie für die Kinder kann ebenfalls nötig, hilfreich und auch entlastend sein, da eine Fachperson involviert wird. Ebenso Organisationen wie die Fachstelle Pflegekinder, welche sich als Stütze der Pflegeeltern und der Pflegekinder in der Pflegefamilie sieht, in Zusammenarbeit mit dem Netz der Kinder.
Fazit
Der Alltag mit den Kindern ist intensiv, streng, unglaublich interessant und schön. „Unsere Kinder“ geben uns unendlich viel zurück von der Liebe, Kraft und Zeit, welche wir ihnen geben. Wir hatten keinen gemeinsamen Start, es gibt Jahre, wo wir oft nicht genau wissen, was die Kinder erlebt haben. Wir haben aber die Chance, gemeinsam ein Stück Weg zu gehen und die Kinder zu unterstützen, ihren Rucksack zu tragen, in der Hoffnung, dass sie ihren Weg in Zukunft alleine finden werden.
Ein Satz, der uns stets begleitet, heisst: „Was müssen wir tun, damit es dem Kind gut geht?“