Portrait einer Tagesfamilie

Aus dem Alltag einer Tagesfamilie mit den Tageskindern Rolf und Urs

Guten Morgen lieber Tiger!

Es ist sieben Uhr dreissig an einem Donnerstag während der Schulzeit. Soeben höre ich die Trogenerbahn einfahren. Ich erwarte den vierjährigen Rolf an der Hand seiner Mutter. Ich öffne das Fenster und winke den beiden über die Strasse zu. An der Tür begrüsse ich die Mutter, während Rolf sich hinter ihr versteckt. Ob sie alleine gekommen sei, frage ich die Mutter. Gleichzeitig merke ich, dass Rolf seinen Stofftiger aus seinem Versteck streckt. Nun begrüsse ich den Tiger und vertröste ihn im Spiel, dass Rolf bestimmt auch gleich kommen werde. Ich suche Rolf hinter der Tür, schaue um die Hausecke und entdecke ihn schliesslich still vor sich hin lachend hinter seiner Mutter.

Die morgendliche erste Scheu weicht und Rolf kommt in die Stube zusammen mit seinem Begleiter, dem Tiger. Ich darf dem Tier allerdings noch nicht zu nahe kommen, es sei ein wilder, gefährlicher Tiger, der mich bestimmt beissen würde, meint sein Besitzer. Ich füge mich den Regeln und eine Weile später darf auch ich den lieb gewordenen, gezähmten Tiger streicheln. Im Lauf des Tages bekomme ich sogar den Auftrag, kurz auf das Tier aufzupassen, während Rolf etwas anderes erledigt.

Eigentlich wie bei uns!

Wir spazieren durch den Wald heimwärts. Und weil der Weg doch etwas lang ist, erzähle ich eine Geschichte. Es ist wieder mal die von Hänsel und Gretel. Urs und Rolf halten mich links und rechts an den Händen, so finde ich, lässt sie sich durch den Wald gehend besonders gut erzählen. In der Geschichte sind wir an der Stelle angelangt, wo Mutter und Vater den Kindern tief im Wald ein Feuer anzünden und sie ermahnen, das Brot erst zu Mittag zu essen. Sie würden sie am Abend wieder abholen.

An dieser Stelle stoppt Rolf die Geschichte, schaut mich an und bestätigt mit gelassenem Ausdruck: "Das ist eigentlich wie bei uns."

Die Worte des Märchens „am Abend holen wir euch wieder ab“ sind Rolf sehr vertraut. Er hört sie jedes Mal, wenn seine Eltern ihn bei mir abgeben. Die Situation des Loslassens macht ihm nicht mehr so Angst wie noch vor einem Jahr. Inzwischen kennt er das Märchen von Hänsel und Gretel sehr genau und hofft, bangt und freut sich mit den Helden. Er weiss um den guten Ausgang der Geschichte. Die Kinder kehren reich beschenkt zum sorgenden Vater zurück. Ebenso weiss er, dass er sich auf die Rückkehr seiner Eltern verlassen kann.

Die Wiederholungen auf verschiedenen Ebenen geben Sicherheit und Gelassenheit.